„Frankreich ist Deutschlands engster und wichtigster Partner in Europa. Mit keinem anderen Land gibt es eine so regelmäßige und intensive Abstimmung auf allen Gebieten.“1 So beschreibt das Auswärtige Amt die Beziehungen zum Nachbarland im Jahr 2016. „Frankreich und Deutschland pflegen eine dynamische grenzüberschreitende Kooperation“,2 heißt es umgekehrt auf der Internetseite des französischen Außenministeriums.
Vor rund 200 Jahren wäre eine solche Beschreibung des jeweils anderen wohl weder deutschen noch französischen Diplomaten in den Sinn gekommen. Wie schnell sich Wahrnehmungen ändern können (zumindest aus der Perspektive von Historiker*innen) und wie sehr diese von Geschichte beeinflusst und durchdrungen sind, dafür gibt es kaum ein besseres Beispiel als die Beziehungen zwischen den deutschen Staaten und Frankreich. Die Idee, zwei Völker stünden im Wettstreit um die Vorherrschaft in Europa und nur eines könne am Ende erfolgreich sein, war im 19. und 20. Jahrhundert sehr verbreitet.
Freund oder Feind auf der anderen Seite des Rheins
In gewisser Weise war eine solche Vorstellung sowohl Ausgangspunkt als auch Folge zahlreicher Kriege und Konflikte, in denen sich deutsche und französische Soldaten vom 18. bis ins 20. Jahrhundert gegenüberstanden (selbst wenn ein deutscher Staat im heutigen Sinn noch nicht existierte). „Kriege stellen somit eine der bedeutendsten Quellen der wechselseitigen Meinungsbildung zwischen Franzosen und Deutschen dar“, heißt es in der Bilanz eines entsprechenden Forschungsprojekts.3 Bis zur endgültigen Niederlage Napoleons und der Neuordnung Europas im Wiener Kongress 1814/15 standen viele ehemals deutsche Gebiete entweder unter französischem Einfluss, waren vorübergehend mit Frankreich verbündet (so Preußen während Napoleons Russlandfeldzug 1812) oder waren als eroberte Gebiete ohnehin Teil dieses Staates. Das Ende der französischen Herrschaft und der Abzug des „Feindes“ wurde in den deutschen Staaten vielerorts bejubelt.
Einen nächsten wichtigen Bezugspunkt für die gegenseitige Freund/Feind-Wahrnehmung stellte der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 dar. Die breite Mobilisierung speziell in Deutschland lässt sich vermutlich aus dem fast religiöse Züge annehmenden gegenseitigen Hass erklären, der durch entsprechende Veröffentlichungen bewusst geschürt wurde.4 Letztendlich verlor Frankreich den Krieg gegen den Norddeutschen Bund und seine Verbündeten. Nicht nur den Verlust des Elsass und Lothringens an das neue Deutsche Reich, sondern auch dessen Ausrufung ausgerechnet in Versailles wurde als ultimative Demütigung empfunden. Das konstruierte Feindbild, Franzosen hätten Deutsche und Deutsche hätten Franzosen zum Feind, war spätestens zu diesem Zeitpunkt fest etabliert – dass die Krisen und Konflikte der vergangenen Jahrhunderte durchaus unterschiedliche Auslöser hatten, wurde in der Propaganda ausgeblendet.
Der entfesselte Krieg
Im Ersten Weltkrieg dann, in Frankreich nicht ohne Grund auch „Großer Krieg“ genannt, begannen solche Vorstellungen über den jeweils anderen direkt die politische und militärische Realität zu prägen. Zu einem geteilten Erinnerungsort wurde beispielsweise schon während der Kampfhandlungen die Schlacht von Verdun im Jahr 1916, in der vor allem deutsche und französische (aber beispielsweise auch polnische) Truppen gegeneinander kämpften und der mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer fielen. Unabhängige Informationen über den Krieg kamen aufgrund der Zensur auf beiden Seiten kaum in Umlauf.
In Frankreich herrschte danach die Erzählung einer heldenhaften, letzlich erfolgreichen Verteidigung des Landes gegen den deutschen Feind vor; umgekehrt wurde in Deutschland – mit einiger Verspätung – das Bild eines heldenhaften Kampfes gegen grausame Franzosen gezeichnet.5 Ende der 1920er Jahre gab es in Deutschland einige militärgeschichtliche Ausstellungen, die sowohl eine Art historische Darstellung des Ersten Weltkriegs lieferten, als auch zum Mittel nationalistischer Propaganda gegen den vermeintlichen „Erbfeind“ Frankreich gereichten.6 Diese Wahrnehmung passte gut zu der gängigen Meinung, dass der nach der deutschen Niederlage geschlossene Friedensvertrag von Versailles einen „Schandfrieden“ bedeute, mit dem Deutschland unangemessen gestraft sei.7
Noch komplizierter wird die Geschichte der gegenseitigen Wahrnehmung mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg. Als Ergebnis von Hitlers Westfeldzug ab 1940 entstand im größeren Teil Frankreichs eine von der Wehrmacht besetzte Zone, im anderen Teil herrschte das „Vichy-Regime“ im Sinne des und in Abhängigkeit vom NS-Regime.8 Die Erkenntnis, dass es in den 1940er Jahren nicht nur Widerstand gegen die Besatzung gegeben hatte, sondern im Gegenteil nicht wenige Franzosen mit dem Feind kollaboriert und ihn in seinen Verbrechen unterstützt hatten, blieb im Nachkiegs-Frankreich lange Zeit ein Tabuthema. Im Bewusstsein um die eigene Schuld und die gemeinsame, schwierige Geschichte wurde es auch in beiden Ländern nach 1945 schwieriger, klar zwischen „Freund“ und angeblichem „Erbfeind“ zu unterscheiden.
Auf dem Weg zu einer friedlichen Neuordnung
Aus historischer Perspektive ließe sich argumentieren, dass es eine deutsch-französische „Erbfeindschaft“ nur insofern gab, als dass sie das Denken über den jeweils anderen geprägt zu haben scheint. Der Eindruck einer quasi natürlichen Feindschaft hate Einfluss auf politische und militärstrategische Überlegungen beider Länder prägte insofern das kulturelle Gedächtnis. Paradoxerweise scheint es gerade diese extreme gegenseitige Abneigung gewesen zu sein, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu der Einsicht führte, dass es so nicht weitergehen konnte. Erst jetzt bemühten sich Deutsche und Franzosen schrittweise, historisch gewachsene Feindbilder zu überwinden und freundschaftliche Beziehungen auf vielen gesellschaftlichen Ebenen miteinander einzugehen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war der Elysée-Vertrag, den Bundeskanzler Adenauer und Präsident de Gaulle 1963 unterzeichneten.
Neben aller Kooperation in politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenhängen existieren in beiden Ländern bis heute durchaus unterschiedlich nuancierte Bilder von der gemeinsamen Vergangenheit, die in einer gemeinsamen Inszenierung von Freundschaft, die bisweilen als zu wenig reflektiert wahrgenommen wird, aber nur noch selten vorzukommen scheinen.9 Das Zerrbild einer „Erbfeindschaft“ scheint in Bezug auf die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich aber glücklicherweise überwunden.
Anm. d. Red.: Wir bedanken uns für Anregungen aus der Fachwissenschaft, auf die hin der Beitrag vom 17. Oktober 2016 am 19. Oktober 2016 in geringfügig bearbeiteter Fassung neu veröffentlicht wurde. Insbesondere wurde der Konstruktcharakter von „Erbfeindschaft“ stärker betont.