War die Wehrmacht eine „saubere“ Armee?

By Team GeschichtsCheck, 1. November 2016

Auf einen Blick:

  • Die Wehrmacht war beteiligt an Holocaust und schwersten Kriegsverbrechen
  • Nach dem Krieg versuchten ihre Offiziere sich als Unpolitische und Widerständler zu geben
  • Nicht jeder einzelne Wehrmachtsoldat war an diesen Verbrechen beteiligt

Im Bild:

CC-BY-NC-ND GeschichtsCheck

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Lesestoff:

„Opa war in Ordnung!“ – mit solchen und ähnlichen Sprüchen machen vor allem, aber nicht nur, Neonazis Stimmung gegen eine Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die sie als „Schuldkult“ oder „Kollektivschuld“ bezeichnen. Mit „Opa“ sind dabei die vielen (Ur-)Großväter gemeint, die zwischen 1939 und 1945 in der Wehrmacht kämpften und dabei, so die weitverbreitete Ansicht, keine Schuld auf sich luden, die über eine normale Kriegsbeteiligung hinausging.

Schuld und Verteidigung

Die Diskussion über Schuld und Unschuld, über Krieg und Kriegsverbrechen begann unmittelbar nach dem Kriegsende 1945. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess kristallisierte sich schnell eine beliebte Verteidigungsstrategie heraus: Dass die SS verantwortlich für schwere Verbrechen bis zum Holocaust war, konnte niemand ernstlich bestreiten; dass die NSDAP als herrschende Partei auch maßgeblich beteiligt war, verstand sich von selbst. Das Spitzenpersonal der Wehrmacht hingegen hatte seine Karriere weit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 begonnen und versuchte sich als „ganz normales“ Militär darzustellen. Entscheidend für die Verteidigung im Prozess und später auch in der kollektiven Erinnerung der ehemaligen Wehrmachtsoldaten war die „Denkschrift der Generale“, ein von vier hochrangigen Ex-Offizieren verfasstes Papier über „Das Deutsche Heer von 1920–1945“ (so der offizielle Titel).

In diesem Text stritten die Generäle nicht nur einfach ab, an Holocaust und Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein, sie zeichneten das Bild einer Wehrmacht als regelrechten Ort des Widerstands: Das Heer sei „von Beginn an gegen NSDAP und SS eingestellt gewesen, [habe] nahezu alle wichtigen Entscheidungen Hitlers mißbilligt und gegen Kriegsverbrechen opponiert.“1 Die Denkschrift wurde nach dem Prozess als Buch veröffentlicht, ebenso wie viele Memoiren von Generälen und Offizieren, die teils sehr hohe Auflagen erreichten.2 Und wäre dies nicht genug gewesen, engagierten die US-Streitkräfte zahlreiche dieser Soldaten für eine Forschungsgruppe, um deren Expertise beim Krieg gegen die Sowjetunion anzuzapfen – was dazu führte, dass die Perspektive der Wehrmacht über kurz oder lang auch in die Köpfe amerikanischer Soldaten gelangte.

Verbrechen

Doch von einer „sauberen“ Wehrmacht, von einer Armee, die sich im Krieg wie jede andere Armee auch verhielt – davon kann und konnte nie die Rede sein. Soldaten töten, das ist, so zynisch das klingt, ihr Beruf, ihre Aufgabe. Insofern kann es im Krieg ohnehin keine „saubere“ Armee geben, und der Krieg, der komplett nach internationalen Regeln geführt wird, ist bisher wohl auch noch nicht ausgefochten worden. Nehmen wir den Begriff der „Sauberkeit“ aber einmal als theoretisches Konstrukt an, dann unterscheidet sich eine „saubere“ Armee von einer „schmutzigen“ durch ihre Nichtbeteiligung an systematischen Kriegsverbrechen. Gemessen an ihrem Verhalten insbesondere in Osteuropa trifft diese Zuschreibung keinesfalls auf die Wehrmacht zu.

Denn die Wehrmacht als Ganzes hat sich an zahlreichen dieser Verbrechen beteiligt. Da wäre ganz grundsätzlich die frühzeitige Einbindung der Wehrmacht in die Vorbereitung der Angriffskriege an Ost- wie Westfront.

Da wäre beispielsweise der Kriegsgerichtsbarkeitserlass, der es ausdrücklich verbot „verdächtige Täter zu verwahren, um sie […] an die Gerichte weiterzugeben“3, wobei mit diesen Tätern straffällige Zivilpersonen gemeint waren.

Da wäre der „Sühnebefehl 888/41“:

„a) Bei jedem Vorfall der Auflehnung gegen die deutsche Besatzungsmacht, gleichgültig wie die Umstände im Einzelnen liegen mögen, muß auf kommunistische Ursprünge geschlossen werden.

b) Um die Umtriebe im Keime zu ersticken, sind beim ersten Anlaß unverzüglich die schärfsten Mittel anzuwenden, um die Autorität der Besatzungsmacht durchzusetzen und einem weiteren Umsichgreifen vorzubeugen. Dabei ist zu bedenken, daß ein Menschenleben in den betroffenen Ländern vielfach nichts gilt und eine abschreckende Wirkung nur durch ungewöhnliche Härte erreicht werden kann. Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muß in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 50-100 Kommunisten als angemessen gelten. Die Art der Vollstreckung muß die abschreckende Wirkung noch erhöhen.“4

Da wäre der „Kommissarbefehl“ vom 6. Juni 1941, der die Angehörigen der Wehrmacht verpflichtete, als Parteifunktionäre identifizierte sowjetische Kriegsgefangene umgehend zu exekutieren:

„Politische Kommissare als Organe der feindlichen Truppe sind kenntlich an besonderen Abzeichen – roter Stern mit golden eingewebtem Hammer und Sichel auf den Ärmeln […]. Sie sind aus den Kriegsgefangenen sofort, d.h. noch auf dem Gefechtsfelde, abzusondern. Dies ist notwendig, um ihnen jede Einflußmöglichkeit auf die gefangenen Soldaten abzunehmen. Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen.“5

Und da wäre die Beteiligung am Holocaust. Schon vor Beginn der Feldzüge in Polen und der Sowjetunion war das Oberkommando der Wehrmacht in die Planung der „Lösung der Judenfrage“ eingebunden, es stellte seine Verkehrsinfrastruktur für den Transport west- und südeuropäischer Juden in die Vernichtungslager zur Verfügung, die Wehrmacht „selektierte“ jüdische Kriegsgefangene zur Deportation und schwor ihre Soldaten auf den Völkermord ein. Als ein Beispiel von vielen kann hier der Befehl von Hermann Hoth aus dem November 1941 gelten:

Es ist die gleiche jüdische Menschenklasse, die auch unserem Vaterlande durch ihre volk- und kulturfeindliches Wirken so viel geschadet hat. […] Ihre Ausrottung ist ein Gebot der Selbsterhaltung.6

Individualschuld

Dass die Wehrmacht keine „saubere“ Armee war, heißt nicht, dass jeder einzelne Soldat an den (Kriegs-)Verbrechen direkt beteiligt war. Doch die Entbindung von individueller Schuld bedeutet nicht, dass man kein Mitglied einer verbrecherischen Armee war. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Wer den Mythos der ritterlichen, ehrlichen, gewisserweise „normalen“ Wehrmacht verbreitet, ignoriert damit ihre Rolle als unverzichtbarer Bestandteil der NS-Verbrechen.

  1. Manfred Messerschmidt: Vorwärtsverteidigung. Die „Denkschrift der Generale“ für den Nürnberger Gerichtshof, in: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1945, Hamburg 1995, S. 531. []
  2. Bernd Struß: „Ewiggestrige“ und „Nestbeschmutzer“. Die Debatte über die Wehrmachtsausstellungen – eine linguistische Analyse (Sprache in der Gesellschaft 29), Frankfurt am Main 2009, S. 30 (insbesondere Fußnote 36). []
  3. Martin Moll (Hrsg.): „Führer-Erlasse“ 1939-1945, Stuttgart 1997, S. 173. []
  4. Nürnberger Hauptprozess 27. Juli 1946, http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3%BCrnberger+Proze%C3%9F/Hauptverhandlungen/Einhundertachtundachtzigster+Tag.+Samstag,+27.+Juli+1946/Vormittagssitzung. []
  5. Anlage zu OKW/WFSt/Abt. LIV/Qu Nr. 44822, http://www.ns-archiv.de/krieg/1941/kommissarbefehl.php. []
  6. Ian Kershaw: Hitler 1936-1945, München 2002, S. 622. []