Wird Geschichte von den Siegern geschrieben?

By Team GeschichtsCheck, 3. Oktober 2016

Auf einen Blick

  • Geschichte wird von denen geschrieben, die sie erzählen
  • Häufig werden, auch unterbewusst, Perspektiven der „Sieger“ eingenommen
  • Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto weniger Quellen haben wir von den „Verlierern“

Im Bild

sieger

Tom Woodward from Richmond, VA, US, Old books by bionicteaching, Blur von GeschichtsCheck, CC BY-SA 2.0

Lesestoff

Wir Historiker*innen werden häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, Geschichte werde von den Siegern geschrieben. Dem etwas zu entgegnen bedeutet, am Kern des Selbstverständnisses von Geschichtswissenschaft und gesellschaftlicher Erinnerung zu rühren. Denn wenn wir beantworten wollen, wer Geschichte schreibt, müssen wir uns erst einmal überlegen, was diese Geschichte überhaupt ist.

Da wäre zum einen der historische Forschungsstand, also das aktuelle historische Wissen, das von Wissenschaftler*innen erzeugt wurde und von der übrigen Wissenschaft als legitim anerkannt wird. Zum anderen gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Erinnerung, also ein Bild von Geschichte, das wir als Konsens unserer Gesellschaft annehmen. Dieses wird maßgeblich über den Schulunterricht und die Massenmedien geformt, aber auf persönlicher Ebene auch über Erzählungen von Eltern und Großeltern – die ihr Wissen natürlich auch zum Großteil aus Schule und Medien haben.

Wenn wir dieses Modell also ein wenig vereinfachen, wird die Geschichte von Historiker*innen, der Schule und den Massenmedien geschrieben und von der persönlichen Erinnerung beeinflusst (das betrifft dann hauptsächlich die Geschichte des 20. Jahrhunderts). Und weil Schullehrer*innen und Medien nur in den seltensten Fällen selbst forschen können, ließe sich sehr vereinfacht sagen: Geschichte wird von Historiker*innen geschrieben.

Doch auch damit würden wir es uns zu einfach machen. Und der Hinweis, Geschichte würde von Siegern geschrieben, wird natürlich meist nicht ohne Hintergedanken gegeben. Der dahinterstehende Vorwurf ist, dass die Verlierer der Geschichte, die Minderheiten und die in Kriegen Unterlegenen von der Geschichte entweder nicht oder automatisch als „die Bösen“ wahrgenommen werden, die Sieger hingegen gleichzeitig als „die Guten“.

Dieses sehr pauschale Urteil trifft  manchmal sogar zu. Je weiter wir zurück in die Vergangenheit gehen, desto schwieriger ist es, Quellen zu finden, die nicht von den „Siegern“ geschrieben oder sonst wie erzeugt wurden. Nur ein Beispiel: Für wichtige Teile der jüdischen Geschichte des Mittelalters haben wir – neben den Quellen der nichtjüdischen Herrscher und Kirchen – lediglich Grabsteine und religiöse Rituale, in die persönliche Erfahrungen der Rabbiner eingewebt wurden. Dieser Mangel an Quellen der „Verlierer“ ist ein Weg, wie Geschichte von den „Siegern“ geschrieben wird.

Der andere Weg sind die vorherrschenden Narrative, also Erzählungen. Wir alle ordnen unser Leben, unser Wissen und unsere Erfahrungen in solche Narrative ein, um eine Art von Sinn, ein übergreifendes Motiv zu erkennen. Das tun wir meist unbewusst, und so geht es uns auch bei unseren Bildern der Geschichte. Das kann ganz unauffällig geschehen, zum Beispiel, wenn wir uns mit der amerikanischen Geschichte beschäftigen und 1492 mit der Entdeckung des Kontinents durch Kolumbus beginnen. Diese Narrative zu korrigieren dauert oft sehr lange. Auch Historiker*innen tragen genau solche Erzählungen oft recht gedankenlos weiter und marginalisieren damit Minderheiten.

Doch meistens wird der oben stehende Vorwurf dann erhoben, wenn es um die deutsche Geschichte, in erster Linie die beiden Weltkriege, geht. Im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg könnte man das auch tatsächlich annehmen. Tatsächlich ist die Diskussion darüber, wer für diesen Krieg verantwortlich ist, sehr viel differenzierter und internationaler geführt worden, als man zunächst einmal vermutet. Dass der deutsche Historiker Fritz Fischer 1961 so viel Aufsehen damit erregte, Deutschland eine Alleinschuld zuzuweisen, lag in erster Linie daran, dass auch in den Ländern der Sieger von 1918 (und von 1945) Einigkeit darüber bestanden hatte, dass alle Großmächte „einigermaßen unbeabsichtigt in den Weltkrieg ‚hineingeschlittert‘ seien“.1  Und erst vor zwei Jahren feierte der in England lehrende Australier Christopher Clark mit seinem Buch „Die Schlafwandler“2 , das an das „Hineinschlittern“ anknüpfte, große Erfolge.

Der Zweite Weltkrieg wird hingegen weder in der Geschichtswissenschaft noch in der Erinnerungskultur so kontrovers diskutiert. Selten in der modernen Menschheitsgeschichte war es möglich, einen Konflikt so eindeutig moralisch zu bewerten. Auch Verbrechen der alliierten Staaten wie die Internierung von Japaner*Innen in den USA oder massenhafte Vergewaltigungen durch Rotarmisten werden und wurden nicht totgeschwiegen, sondern intensiv untersucht und erinnert.

Um es zusammenzufassen: Geschichte wird von denen geschrieben, die sie erzählen (ob schriftlich oder mündlich). Ihre Perspektiven, Überzeugungen und Zeitgeisteinflüsse sind dabei immer zu beachten. Ob sie Sieger sind, spielt dabei eine zunehmend geringere Rolle.

  1. Jürgen Kocka: Entfernung und Einsicht. Weltkriegsforschung im Wandel, in: Newsletter Arbeitskreis Militärgeschichte 8 (2004), S. 7-11, hier: S. 7. []
  2. Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. []